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„Ich kann den Himmel sehen“

Von Sofie Trindeitmar

Wir hatten zu der Zeit eine kleine Landwirtschaft, einen kleinen Kotten in der Oster. Mit zwei Pferden, sechs Kühen, Schweinen und Hühnern. Doch unser Haushalt war — zumindest aus heutiger Sicht betrachtet — riesig: Mama, Papa, Oma, Opa, acht Kinder, zwei Onkel und eine Tante, alle saßen sie bei uns am Tisch. Wir hatten nicht viel, aber immer genug für alle.

Es waren die 40er Jahre. Es herrschte Krieg.

Ich wurde im Herbst 1944 in die Schule „Oster l" eingeschult; später wurde sie Bollhorstschule genannt. Ein geregelter Unterricht war dort jedoch kaum möglich. Oft wurden wir nach Hause geschickt — wegen Fliegeralarms. Doch die Sirenen heulten nicht nur tagsüber, viel öfter hörten wir sie in der Nacht. Dann mussten wir aufstehen, uns Decken und unser Oberbett schnappen und in den Gemüsegarten laufen. Dahinter verkrochen wir uns in einen Graben und beteten bis die Gefahr vorbei war. Manchmal Stundenlang. Im Oktober 1944 – kurz nach meiner Einschulung -wurden in der Nachbarschaft die Häuser von Lohlammert und Herbering von Brandbomben getroffen. Ich erinnere mich, dass kurz darauf ein Mann in brauner Uniform mit einem Motorrad auf unseren Hof fuhr: Mein Vater müsse sofort dorthin und Wache halten. Denn die Männer, die nicht an der Front waren, mussten in der Heimat der Landwacht oder dem Volkssturm dienen.

Drei Monate später geschah dann das, was ich nie vergessen werde.

An diesem 20. Januar 1945 herrschte dichtes Schneegestöber. Durch die dicken Flocken sah ich aber noch die Bombengeschwader über unseren Hof in Richtung Norden ziehen, bevor Oma uns ins Haus rief. Meine Mutter (41) und mein sechsjähriger Bruder Hans-Josef waren gerade in der Upkammer (darunter lag der Keller) und machten die Betten. Papa (47) und Paul (14) waren auf dem Dachboden. Sie verpackten Stroh, daraus sollten Häcksel für die Pferde geschnitten werden. Opa lag krank im Bett, Oma putzte Schuhe. Ich, sieben Jahre alt, und meine Geschwister Mia (12), Tina (9), Heini (3) und Anneliese (1) gingen in die Küche. Wir Großen putzten, die Kleinen spielten. Das Mittagessen stand auf dem Herd. Es war ein Samstag. Die Bombe fiel mitten auf unser Haus und explodierte. Ein Knall, ein Beben.

Wie lange wir unter den Trümmern lagen, weiß ich nicht. Es waren bestimmt zwei Stunden. Oma rief immer wieder „Hilfe!" und „Ich kann den Himmel sehen!" Sie lag direkt unter dem langen Ofenrohr, das zwischen den Trümmern ins Freie geragt haben muss. Irgendwann kamen die Nachbarn und die Soldaten, die in der Nähe Schutzgräben geschanzt - ausgehoben - hatten. Mit Schaufeln und bloßen Händen befreiten sie uns aus der Ruine unseres Hauses. Wenn es, wie die Häuser heute, eine Betondecke gehabt hätte, wer weiß, wo wir jetzt wären. Die Soldaten haben uns ins Krankenhaus gebracht. Alle außer Mama, Paul und Hans-Josef. Die Druckwelle der Explosion hatte sie getötet. Opa und Anneliese wurden schon nach kurzer Zeit aus dem Hospital entlassen und bei meiner Tante bei Höfting einquartiert. Heini war elf Wochen im Krankenhaus. Er hatte starke Verbrennungen vom Herd und dem Essen, das darauf gestanden hatte. Mehrere Wochen war er völlig apathisch und nicht ansprechbar. Papa konnte nicht mehr hören, sein Trommelfell war geplatzt. Meine Schwestern und ich wurden nach einer Woche bei Nachbarn und Verwandten untergebracht und mussten wieder zur Schule gehen. Zumindest für einige Stunden.

Wir hatten kein Zuhause mehr. Das Haus war zerstört. Wir hatten nichts mehr. Keine Tasse. Keinen Teller. Kein Essen. Doch wir bekamen Hilfe. Überall in Ochtrup fanden wir Menschen, die uns unterstützten. Wir bekamen nicht nur Essen und Futter für das Vieh, sondern auch Kleidung, Betten und Möbel - natürlich alles zum Notbehelf. Dann richteten uns Nachbarn, Bekannte, Freunde und Verwandte eine notdürftige Wohnung in unserem Schweinehaus ein. Mit einfachen Brettern wurden in dem Stall Wände hochgezogen. Wir hatten drei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer. Ohne Tapeten und ohne richtigen Fußboden. Zwei Jahre lang haben wir dort gelebt.

Osterdienstag. Auch diesen Tag werde ich nie vergessen. Südlich von uns, beim Nachbarn Schulte, und nördlich bei Feldmann lagen die Deutschen und die Alliierten und beschossen sich. Mit Gewehren und Handgranaten. Zwei Nachbarsmädchen waren bei uns, Franziska und Käthe Heufersbernd. Alle zusammen haben wir zwei Stunden lang betend und weinend im engen Kartoffelkeller des Backhauses gehockt. Als Franziska und Käthe endlich nach Hause gehen konnten, trugen sie ein weißes Tuch. In den Eichen auf dem Hof und den Mauern der Ställe waren überall Einschusslöcher. Im Mai war es endlich vorbei. Der Krieg war zu Ende. Doch jetzt kamen die Folgen. Wir mussten ein neues Haus bauen. Aber wovon? Zu der Zeit bekam nur Material, wer mit Schinken, Speck, Butter oder Eiern bezahlte. Der Schützenverein und die Nachbarn standen uns bei: Sie haben uns mit den nötigen Naturalien ausgeholfen und uns beim Hausbau unterstützt. Ein Nachbar zum Beispiel brachte uns jeden Tag selbst gebackenes Brot. Wir hatten ja nichts. Auch unser Haushalt musste weitergeführt werden. Unsere Oma, immerhin schon 72 Jahre alt, bekam Hilfe von unseren Tanten. Sie wechselten sich ab. Opa lag krank im Bett, bis er an einem Tag im Mai gestorben ist. Es war der Tag von Tinas Erstkommunion. Im Februar 1947 war unser neues Haus endlich halbwegs fertig. Papa hat wieder geheiratet, wir bekamen eine gute Mutter und noch drei weitere Geschwister. Das neue Haus hatte übrigens graue Zementdachziegel; aus Ton gab es sie damals nicht. Jeder Sturm fegte einige Hundert vom Dach. Und jedes Mal weckte das in uns Erinnerungen: Oma betete bei jedem Sturm den Rosenkranz, und wir alle beteten mit. Der Schock vom 20. Januar 1945 saß tief. Vergangen ist er wohl nie. Ich war noch ein Kind, einiges ist im Gedächtnis geblieben, vieles weiß ich nur aus Erzählungen von Oma oder von meinen Geschwistern. Doch wirklich darüber gesprochen, haben wir damals nicht. Papa wollte das nicht. Er sagte immer: „Das ist Schicksal, das Leben geht weiter." Heute weiß ich jedoch, dass es besser ist, über das Schicksal zu sprechen anstatt zu schweigen.

 

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